Donnerstag, 5. April 2018

Teil 197 - Ich glaube, ich würde fast alles dafür tun ...

Der junge und frischgebackene Professor war heilfroh, dass er die Universität verlassen konnte und genau das tat er auch auf direktem Weg. Die Ausrede, dass sein Blutdruck instabil gewesen sei und der Überraschungsbesuch sein Restliches dazu beigetragen hatte, hatten alle mehr oder weniger geschluckt. Letztendlich war es ihm egal, ob sie ihm geglaubt hatten, er wollte einfach nur noch weg.

Er knallte die Haustür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. So, als würde er sie vor weiteren Eindringlingen zuhalten. "Geschafft", stieß er erleichtert aus, dann hielt er nach seinem Roboter Ausschau. "Vito?"

"Ich bin hier, Meister", kam es aus der hinteren Ecke zurück. Der Roboter saß gemütlich im Schaukelstuhl und las fleißig.

"Das Essen ist auch schon fertig." Er klappte das Buch zusammen und stand auf. "Möchtest du eine Kleinigkeit zu dir nehmen?"

Michele hob die Augenbrauen, dann nickte er unstet. "Hm ja, eine Kleinigkeit ist perfekt", gab er zurück, weil er noch nicht wusste, ob sein Magen jetzt schon fähig war Nahrung zu verarbeiten. Anschließend folgte er seinem Roboter in die Küche.

Plötzlich klingelte es an der Haustür. Michele schrak zusammen, weil er die Klingel noch nie gehört hatte, solange er in Riverview war.

"Soll ich die Tür öffnen?", erkundigte sich Vito und stellte den Teller wieder ab.

Michele sprang ihm entgegen, damit er ja nicht auf die Idee kam, die Tür zu öffnen. "Nein", erwiderte er hastig, "ich öffne die Tür. Versteck dich bitte im Schlafzimmer. Dich braucht noch niemand zu sehen."

"Warum denn nicht?", hakte Vito mit einem trotzigen Unterton nach.

"Tu bitte, was ich dir sage", wies Michele drakonisch an, denn er wollte nicht mit einer Maschine diskutieren. "Ich erkläre es dir später. Bitte geh jetzt ins Schlafzimmer und bleib solange dort, bis ich dich hole."

Wie ein gedroschener Straßenköter setzte Vito seine Metallglieder in Bewegung, steuerte auf die Schlafzimmertür zu und bedachte seinen Erschaffer mit einem abfälligen Schulterblick. Michele konnte nicht deuten, ob es ein eingeschnapptes Ansehen war, oder ein Prüfendes. Beides wäre ein Fortschritt der Technik.

Nachdem die Tür hinter Vito ins Schloss gefallen war, eilte Michele an die Haustür und öffnete sie. "Tori?", fragte er überrascht, weil er das Gefühl bekam, seinen Augen nicht mehr trauen zu können. "Was machen Sie denn hier?"

"Naja", stammelte sie, "ich dachte mir, dass Sie für mich viel zu wertvoll sind, als dass ich Sie jetzt ohne noch einmal zu sprechen einfach abreisen lassen könnte. Hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich?"

Erst schaute er skeptisch drein, doch dann machte er der jungen Frau den Weg ins Haus frei und ließ sie eintreten. Wertvoll hatte ihn noch kein Fremder betitelt. Er mochte die junge Studentin gern, weil sie unheimlich wissbegierig und strebsam war. Vielleicht aber auch, weil ihr Äußeres bei vielen Mitmenschen ein Schubladendenken provozierte, sie aber all diese Mitmenschen mit ihrer Intelligenz locker in die Tasche stecken könnte. Sie erinnerte ihn ein wenig an sich selbst.

"Ich wollte vor meiner Heimreise noch etwas essen. Möchten Sie mit mir essen?"

Sie hatte noch nichts gegessen, weil sie ihm nach der Uni heimlich gefolgt war, um seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Aber selbst wenn sie schon etwas gegessen hätte, hätte sie sich die Gelegenheit niemals nehmen lassen mit ihm zu speisen. "Ja, sehr gern. Dann komme ich ja gerade noch rechtzeitig." Sie lächelte warm und nahm Platz, während Michele Vitos gekochte Speise auf einen weiteren Teller auftat.

Kurze Zeit später setzte er sich zu ihr. "Guten Appetit", wünschte er und fragte angespannt: "Was kann ich denn für Sie tun?"

"Ich finde es schade, dass Sie Riverview so schnell wieder verlassen wollen. Ich kann Sie sicherlich nicht umstimmen, habe ich recht? Ich glaube, ich würde fast alles dafür tun, dass Sie uns erhalten bleiben." Sie grinste und nahm einen Happen. "Hm, es schmeckt ausgezeichnet."

"Danke", sagte er und beantwortete im nächsten Atemzug ihre Frage. "Sicherlich wissen Sie, dass ich als Arzt tätig bin. Meine Patienten brauchen mich."

"Wir brauchen Sie auch", gab sie frech zurück und es passte irgendwie sehr gut zu ihrem leicht heiseren Sound in ihrer Stimme, "ich habe all Ihre Berichte gelesen und ich muss sagen, dass ich außerordentlich von ihrem Schreibstil und vor allem Ihrer Sichtweise in vielerlei Hinsicht sehr beeindruckt bin. Naja, das ist jetzt vielleicht der falsche Ausdruck. Ich bin total fasziniert von ihren Arbeiten. Vor allem, weil Sie sich auch mit Alternativmethoden beschäftigen. Das findet man ja leider nicht so oft. Es gibt aber noch einen weiteren Punkt." Tori machte es spannend und nahm erst einmal genüsslich den nächsten Happen zu sich.

Michele wartete geduldig auf ihre nächste Ausführung und aß ebenso.

"Wissen Sie, gerade ihre Ausführung über KISS hat mich besonders bewegt. Wie Sie auf Babys und ihre Bedürfnisse eingegangen sind, das war der absolute Oberhammer. Derartiges habe ich zuvor noch nie gelesen. Ich konnte herauslesen, dass Sie Kinder sehr gern haben. Ich brauche Ihnen sicherlich nicht zu sagen, dass mich Ihr Alter etwas überfordert hat, aber mittlerweile finde ich das richtig, richtig gut. Was mich unglaublich interessieren würde ist, wie Sie zu paranormalen Ereignissen stehen?"

Michele schluckte im ersten Moment und blickte sie an. "Tori, das ist zweifelsohne auch für mich ein sehr interessantes Thema, aber leider gelingt es mir nur selten, mich kurz zu fassen. Wie Sie wissen, möchte ich gleich abreisen."

Tori seufzte enttäuscht. Sie lauschte seinen Worten so unglaublich gern. Sein Unterricht war für sie einmalig, weil er es mit seinen Ausführungen geschafft hätte, sie für jedes Thema zu begeistern.

"Schade", säuselte sie benommen und lenkte auf den Punkt für ihr eigentliches Kommen. "Ich würde total gerne mein Praktikum bei Ihnen machen. Bestünde dafür denn die Möglichkeit? Sie würden mir einen großen Gefallen tun. Es wäre mir eine Ehre, mit Ihnen Seite an Seite arbeiten zu können. Keiner kann mir den Stoff so gut vermitteln wie Sie. Nach dem Praktikum möchte ich nach Afrika übersiedeln, dort meine kleine Praxis eröffnen und den Menschen vor Ort helfen, aber hauptsächlich Kindern. Sie wissen ja, Beschneidungen bei kleinen Mädchen und so. Das ist ein bestialisches Verbrechen und das kann ich nicht stillschweigend dulden."

Michele schluckte laut, weil sie ihn unglaublich überraschte. "Tori, ich wohne in Twinbrook." Michele musste sich eingestehen, dass die junge Studentin ihn mit ihren edlen Absichten, Menschen helfen zu wollen, bereits in der Tasche hatte.

"Das weiß ich."

"Ihre Pläne sind viel zu wertvoll, als das ich ablehnen könnte", gab er ihr das Kompliment zurück. "Sie wollen also nach Twinbrook kommen und bei mir lernen? Was soll ich sagen? Ich bin in der Tat etwas sprachlos. Es ist ja nicht das erste Mal, dass Sie mich überraschen", gab er zu.

Sie grinste vor Freude. "Das geht mir mit Ihnen genauso." Das Kompliment gab sie sehr gerne nochmal an ihn zurück. "Vorhin im Klassenzimmer ... Sie hatten eine Panikattacke, richtig? Ich will nicht indiskret sein, aber es wäre schön, wenn Sie ehrlich zu mir sind, weil das wichtig für meine Beobachtungsgabe ist."

Und schon wieder haute sie ihm einen Überraschungseffekt um die Ohren. Er stockte und zögerte mit seiner Antwort.

"Ich interessiere mich für Kinderpsychologie", begründete sie ihre Indiskretion, "darum wäre es für mich wichtig, wenn Sie mir eine ehrliche Antwort geben. Ihre Symptome haben mir jedenfalls ganz danach ausgesehen und es tut mir leid, dass Sie diesem Stress ausgesetzt worden sind. Jemand, der das noch nie am eigenen Leib gespürt hat, kann sich nicht im Geringsten hineinversetzen." Die Abfälligkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Sie hatte ihm wieder bewiesen, dass sie begabt und talentiert war. Er nickte. "Sie haben eine sehr gute Beobachtungsgabe, Tori. Ich leide tatsächlich unter Panikattacken, sobald ich von vielen Menschen eingekreist werde. Aber ich lebe schon seit vielen Jahren damit und habe es mittlerweile gut unter Kontrolle. Ausgenommen heute, weil ich überrascht worden bin. Interessant, dass Ihnen das als Medizinstudentin nicht entgangen ist, während Professoren hoffentlich denken, dass mein Kreislauf der Auslöser war. Sie haben Talent."

"Danke." Es ehrte sie ungemein, das von ihm zu hören.

Michele wurde unruhig und drängelte ein wenig. "Dem Praktikum dürfte bis auf das Formelle nichts im Wege stehen. Wann haben Sie vor zu beginnen?"

"Am liebsten nach dem kommenden Semester. Ich möchte keine Zeit verlieren. Gibt es in Ihrem Ort sowas wie eine Schwestern-WG? Leider sind meine Mittel als Studentin doch stark begrenzt."

"Ich schlage vor, dass Sie mir Ihre E-Mail-Adresse aufschreiben und ich schreibe Ihnen meine auf. Senden Sie mir schnellstmöglich Ihre Bewerbung und Unterlagen zu. Sobald ich sie erhalten habe, werde ich zeitnah darauf reagieren. Eine feste Zusage kann ich Ihnen erst nach Erhalt der Unterlagen geben und die bekommen Sie auch schriftlich von mir. Zwischenzeitlich werde ich mich im Krankenhaus informieren, ob eine Unterbringung möglich ist. Im Schwesternwohnheim waren bislang nur wenige Plätze frei, daher kann ich keine verbindliche Aussage tätigen."

"Selbstverständlich werde ich Ihnen umgehend meine Unterlagen zusenden", sagte sie, während Michele ihr seine private E-Mail-Adresse aufschrieb.

Er reichte ihr den Zettel und sagte: "Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht sofort eine feste Zusage machen kann. Sollten Sie jedoch Ihre Praxiserfahrung bei mir machen wollen, möchte ich Sie vorab darauf vorbereiten, dass Sie aus Hygienegründen im Operationssaal auf Ihre Piercings verzichten müssen."

Tori seufzte betrübt. "Ich weiß, dass ich Opfer bringen muss, wenn ich mein Praktikum in der Chirurgie machen will. Aber an der Chirurgie kommt man als angehender Mediziner leider nicht vorbei."

Michele nickte. "Stimmt", pflichtete er ihr bei. "Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss mich sputen."

"Danke, Professor." Tori stand auf und rückte den Stuhl an den Tisch. "Vielen Dank und gute Heimreise. Ich werde Ihnen gleich meine Unterlagen zusenden, ich kann es kaum erwarten, Ihnen bei der Arbeit assistieren und zusehen zu dürfen."

Michele begleitete sie höflich zur Tür und reichte ihr zum Abschied seine Hand. "Bis demnächst."

"Auf jeden Fall", gab sie euphorisch zurück, öffnete die Haustür und sprang freudig die Stufen hinunter.

Michele sah ihr einen kurzen Moment nach. Er war bereits jetzt schon auf ihre Unterlagen gespannt. Anschließend ging er zu Vito ins Schlafzimmer. "Entschuldige, es hat etwas länger gedauert. Ich packe noch schnell meine Sachen zusammen, dann können wir uns auf den Heimweg machen."

"Schon erledigt", sagte Vito, der gelangweilt auf dem Bett lag und Löcher in die Luft starrte.

"Das nenne ich Service", erwiderte Michele grinsend. "Dann nichts wie los. Ach, die Werkbank muss ich noch auseinanderschrauben."

"Das mache ich schnell." Der fleißige Roboter stand auf und verschwand zur Tür hinaus.

Michele schnappte sich die bereits gepackte Reisetasche und schaute sich noch einmal in jedem Raum um, ob Vito auch nichts vergessen hatte, dann folgte er seinem Roboter in die Garage und verfrachtete die Einzelteile der Werkbank in den Kofferraum. "Anschnallen!", befahl er Vito und setzte sich hinters Lenkrad. Einen Moment später traten sie die Heimreise an.

Kurz bevor Michele auf die große Hauptstraße einbiegen wollte, trat er unsanft auf die Bremse, weil er Tori entdeckt hatte. Vito quiekte kurz auf, zeitgleich wurde sein Oberkörper nach vorn geworfen, während sein Metallschädel ungebremst die Windschutzscheibe küsste. Von dem lauten Knall zuckte Michele zusammen, währenddessen wurde Vitos Oberkörper wieder zurück in den Sitz geschleudert. Mit einem lauten Signalton und Zischen der Stromleitungen verabschiedete sich sogleich die Technik. Vito ließ den Kopf hängen und schmorte vor sich hin.

"Verdammt", fluchte Michele, "ich habe doch gesagt: Anschnallen!"

Der junge Mediziner schüttelte über den Roboter den Kopf, ließ ihn aber schmorend im Auto sitzen und stieg aus.

"Tori", rief er ihren Namen und eilte zu ihr hinüber. Sie stand zusammengekauert an einem Baum. Vorsichtig schaute er über ihre Schulter und erkundigte sich besorgt: "Ist alles in Ordnung?"

Tori hatte die Luft angehalten und die Augen zusammengekniffen, doch als sie seine Körperwärme im Rücken spürte, kam sie mit ihrem Oberkörper wieder hoch. Ihr Körper zuckte dezent, dann lief ihr Gesicht rot an. "Ähm", machte sie und räusperte sich. Ihr war das peinlich, dass ausgerechnet der unglaubliche Professor sie so sehen musste. "Danke der Nachfrage", stammelte sie, "ja, es ist alles in Ordnung."

"Wirklich?", hakte Michele nach, denn das sah ganz und gar nicht danach aus.

"Wirklich", versicherte sie ihm versteinert. "Kommen Sie gut Heim. Sobald ich zu Hause bin, werden Sie Post von mir bekommen", versuchte sie sich peinlich berührt aus der Affäre zu ziehen, indem sie vom Thema ablenkte und sich am besten auch nicht bewegte.

"Ja, das sagten Sie bereits", erwiderte Michele skeptisch. Er musste sich weit vorbeugen, damit er einen Blick in ihr Gesicht werfen konnte, denn er glaubte ihrer Aussage nicht. "Kann ich Sie nach Hause bringen?"

Tori schüttelte energisch den Kopf. "Nein, nein. Mein Auto steht am Straßenrand. Bis dann, Professor", wimmelte sie ihn ab.

"Na schön, wie Sie wollen", gab er nach. "Ja, bis dann." Er ließ ihr einen letzten argwöhnischen Blick zuteilwerden und ging zurück zu seinem Auto, in dem der defekte Roboter nicht auf ihn wartete.

Tori sah Michele traurig hinterher. Sie setzte an, dann zögerte sie wieder, um nochmal neu anzusetzen. "Professor?", rief sie hinter ihm her.

Michele drehte sich zu ihr um. "Ja?" An den Titel musste er sich erst noch gewöhnen, aber er war der Lohn für seinen Fleiß.

Tori biss sich auf die Unterlippe und ballte ihre Fäuste. Schließlich überlegte sie es sich anders. "Fahren Sie vorsichtig und bitte melden Sie sich bei mir. Für mich hängt sehr viel von dem Praktikum ab."

"Das werde ich, machen Sie sich keine Sorgen." Anschließend setzte er seinen Weg fort, stieg ins Auto und bog auf die Hauptstraße ein.

Was Michele nicht mehr sehen konnte, war, dass die junge Studentin weinend auf ihre Knie fiel.

Es hatte sie enorm viel Kraft gekostet, ihre Tränen so lange zu unterdrücken, bis er es nicht mehr sehen konnte.

Textlänge: 2.260 Wörter

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