Mittwoch, 7. Februar 2018

Teil 196 - Du bekommst einen bedeutsamen Namen von mir ...

~ Vier Tage später ~

Micheles vorletzter Tag in Riverview verabschiedete sich allmählich. Er hatte schon alle Arbeiten seiner anvertrauten Klasse durchgesehen und benotet. Aber auch der Professorenausschuss hatte Micheles Benotung festgelegt, nachdem seine Unterrichtsmethode eingehend verfolgt worden war.

Die Klausur, die er selbst erstellt hatte, sein Unterricht und seine schriftlichen Werke sorgten für Staunen, aber auch manchmal für Entsetzen, im positiven Sinne.

Ferner hatte sein Roboter enorm an Gestalt zugenommen. Irgendetwas wollte jedoch nicht so recht funktionieren und dem wollte er sich heute widmen.

Mit all seiner Leidenschaft gab er sich der Technik hin und vergaß beinahe die Zeit. Er brauchte nur noch einen verdammten Draht zusammenzulöten, dann müsste es seiner Meinung nach vollbracht sein.

Er linste auf seine Uhr. Es war weit nach Mitternacht, aber er konnte die Antwort auf seine langgehegte Frage nicht auf den nächsten Tag verlegen, nicht so dicht vor dem Ziel. Dazu war er viel zu neugierig und befand sich viel zu tief im technischen Rausch.

Die Spannung stieg ins Unermessliche, so kurz vor dem letzten Handgriff. Der Roboter saß bereits fix und fertig auf der Werkbank, er musste sich nur noch eigenständig bewegen.

Michele griff zum Lötkolben und befestigte die verdächtigten Elektroden, anschließend schraubte er die letzte Schraube in das vorgesehene Gewinde. Skeptisch musterte er den Roboter, der noch immer starr und bewegungslos auf seiner Werkbank saß.

Der junge Mediziner leckte provokant seinen Zeigefinger an und drückte schwungvoll den Powerknopf.

Kurz darauf zischten elektrische Blitze durch das kalte Metall. Michele kniff die Augen zusammen. Die Anspannung schoss über das Ziel hinaus. "Komm schon!", feuerte er den Roboter an.

Die Arme des Blechmannes setzten sich allmählich in Bewegung. Sein Kopf war kraftlos und plumpste nach hinten weg. Gerade als Michele Hand anlegen wollte, damit der Kopf nicht abfallen konnte, klappte der Kopf auch schon wieder nach vorn, dann bewegte er sich zuckend in die Senkrechte. Große Metallaugen glotzten Michele an.

"Danke Herrgott, er bewegt sich", jubelte Michele und reckte seine Arme in den Himmel. Er freute sich seines Lebens, denn hiermit erfüllte sich ein langgehegter Wunsch.

Der Roboter sackte noch einmal in sich zusammen.

"Nein", konsternierte Michele erstarrt, "jetzt bloß keinen Kurzen kriegen."

Doch dann drehte der Blechmann nacheinander seine Gelenke und nahm einen self check vor.

Es folgte ein Signalton, anschließend sprang der Roboter von der Werkbank und kam direkt vor Michele zum Stehen. Er blickte starr auf seinen Erfinder, während dieser ihn abwartend musterte.

Ein Knistern lag in der Luft. Für Michele war das ein unglaublicher Moment. Am liebsten hätte er den Roboter geschüttelt, damit er endlich sprach.

"Hallo", kam es endlich, aber noch abgehackt, weil der Sprachcheck noch nicht vollständig durchgelaufen war. "Wie. lautet. mein. Name? Du. bist. mein. Vater." Der Kopf drehte sich ein Mal um die eigene Achse, bis schließlich große Metallaugen verwirrt auf Micheles Haut brannten.

Der junge Doktor konnte es nicht glauben. Er hätte zweifelsohne Erfinder werden sollen. Der Roboter war der Beweis, dass er es drauf gehabt hätte. Warum nicht Arzt und Erfinder?, schoss es ihm durch den Kopf. Warum bin ich nicht gleich drauf gekommen? Ich könnte locker beides machen, solange es mir die Zeit erlaubt.

"Wie. lautet mein. Name? Du bist. mein Vater.", wiederholte sich der Roboter. Eine Sprachverbesserung wurde spürbar.

Michele grinste. "Willkommen auf der Erde, Vito. Du bekommst einen bedeutsamen Namen von mir. Vita bedeutet Leben und ich leite es in die maskuline Form ab, also Vito."

Krass, ich spreche mit meinem Roboter. Einfach nur unglaublich.

"Ja, der Name. gefällt mir sehr. gut. Soll ich dich. Vater nennen?"

"Oh nein, bloß nicht", erwiderte Michele abgehetzt, "ich heiße Michele. Nenne mich einfach bei meinem Namen." Noch überwältigt hielt er sich die Hand an seinem Mund und beobachtete argwöhnisch seine eigene Erfindung.

"Sehr gern, Michele oder Meister. Ich überlege mir das. noch."

Es war eigenartig. Irgendwie nannten ihn seine Mitmenschen, wie sie wollten. Salvatore nannte ihn Chef, seine Mutter Micky, seine damaligen Mitschüler Einstein oder Frankenstein, und jetzt fing sogar der Roboter auch noch damit an. Er hatte doch aber einen Namen, darum verstand er die Problematik nicht, diesen auch zu verwenden.

"Wie fühlst du dich, Vito?"

"Gut. Soll ich putzen?"

"Nein", erwiderte Michele, "es ist spät. Ich gehe jetzt schlafen und was du machst, weiß ich nicht. Was willst du denn gerne machen?"

"Ich will auch schlafen", erwiderte Vito, wackelte an Michele vorbei und verbreitete damit Aufbruchsstimmung.

Das Haus besaß nur ein Bett und Michele war ganz und gar nicht daran interessiert, sich dieses eine Bett mit seinem Roboter zu teilen.

~ ~ ~

"Möchtest du frühstücken?", hallte es unsichtbar durch den Raum, nachdem Michele gedankenversunken das Wohnzimmer betreten hatte.

Der junge Arzt erstarrte einen kurzen Moment, bis ihm sein Gedächtnis verriet, dass er letzte Nacht einen Roboter gebaut hatte. Er musste sich an den Gedanken erst noch gewöhnen. Allerdings musste er sich eingestehen, dass seine Erfindung viel mehr Intelligenz abbekommen hatte, als erwartet.

"Nein, danke", gab Michele kurz zurück und verschwand ins Badezimmer. Er schien sich gerade die Zähne zu putzen, denn danach hörte sich seine etwas undeutliche Frage an. "Weißt du noch deinen Namen?"

"Ich heiße Vito. Das ist ein abgeleiteter Name von Vita und bedeutet Leben."

Michele lugte durch den Türspalt und grinste. "Richtig", gab er zufrieden zurück und kehrte dann in voller Lebensgröße im Wohnzimmer ein. "Kannst du kochen?", wollte der junge Arzt schließlich wissen.

"Ja, Meister. Ich kann Spaghetti, Salat, Thunfisch, Waffeln, Butterkekse ..."

"Okay", unterbrach Michele ihn. "Ich habe nicht so viel Zeit, mir deine programmierte Liste anzuhören. Ich weiß, was du alles kochen kannst, ich wollte mich nur vergewissern, ob du das auch weißt. Ich muss jetzt zur Universität. Heute ist mein letzter Tag, danach werden wir nach Hause fahren. Aber du könntest vorher noch etwas kochen, ehe wir uns auf den langen Weg machen."

"Nach Hause? Langer Weg?" Vito schaute beunruhigt zu seinem Erschaffer und hielt sich die Hand vor dem Mund.

Als Michele die glühenden Augen seines Roboters auf seiner Haut spürte, stellte er verdutzt fest, dass der Roboter sogar Mimik hatte. Zumindest meinte er in Vitos Gesichtsausdruck eine Emotion gesehen zu haben. "Hier wohnen wir nicht, Vito. Erst heute Abend wirst du dein Zuhause kennenlernen und dort bekommst du dann auch dein eigenes Bett. Bis nachher. Ich bin gegen vierzehn Uhr wieder zurück. Mach keinen Blödsinn während meiner Abwesenheit." Michele änderte seine Richtung, huschte zu seiner Reisetasche und kam mit ein paar Bücher zurück. Er legte sie auf den Tisch und ordnete an: "Lese alle Bücher durch. Ich frage nachher dein Wissen ab", drohte er im nächsten Atemzug, damit der Roboter erst gar nicht auf dumme Ideen kam.

Der junge Mediziner musste sich sputen. Er stellte eilig sein Auto auf dem Parkplatz ab und hetzte ins Klassenzimmer. "Guten Morgen", begrüßte er alle Studenten, nachdem er es betreten hatte. Alle Studenten begrüßten auch ihn im Chor und wünschten ebenso einen guten Morgen.

Irritiert beäugte er einen leeren Platz. "Weiß jemand, ob Lennie noch erscheinen wird?"

"Ich glaube nicht, dass er noch kommen wird", antwortete Mia genervt.

Michele konnte sich denken, warum Lennie nicht zum Unterricht erschienen war, schließlich hatte er seine Klausur benoten müssen. Der junge Mediziner konnte das Schuldgefühl nicht ablegen und verbuchte Lennies schlechte Klausur auf sein eigenes Konto, weil er anscheinend nicht in der Lage gewesen war, den Stoff zureichend zu vermitteln.

Tori bemerkte es an Micheles betroffenem Gesichtsausdruck und schritt ein: "Es ist nicht Ihre Schuld, Doktor. Ich glaube, Lennie hat in letzter Zeit keine gute Phase. Er hat sich schon seit geraumer Zeit beschwert, dass er dem Unterricht nicht mehr folgen kann."

Micheles Miene hellte sich ein wenig auf. Nicht, weil er Toris trostspendenden Worte wirklich annehmen konnte, sondern weil ihm die junge Frau, mit der besten Klausur und voller Punktzahl, versuchte zuzusprechen.

~ ~ ~

Die letzte viertel Stunde seines Unterrichts war angebrochen, als unerwartet die Tür aufging. Einige Herren betraten den Raum, unter anderem auch Professor George, der anscheinend extra angereist war. Er reichte Michele die Hand und lächelte. "Ich habe von Ihrer hervorragenden Leistung gehört und konnte es mir nicht nehmen lassen, nach Riverview zu kommen, um vor Ihrer Klasse zu verkünden, dass Sie heute die Universität als Professor verlassen werden." Professor George stellte Michele zwar noch seinen Kollegen vor, aber der junge Mediziner nahm das kaum noch wahr.

Ein Raunen vieler Stimmen füllte den Raum. Tori riss es vor Begeisterung vom Stuhl. Sie sprang auf und klatschte euphorisch in ihre Hände. "Glückwunsch", jubelte sie ungebremst. Anschließend riss es auch die restlichen Studenten von den Stühlen. Das laute Klatschen verhinderte jede weitere Unterhaltung.

Michele stand total überrumpelt am Lehrerpult. Es hatte ihm die Sprache komplett verschlagen. Derartiges mochte er ganz und gar nicht. Ihm wurde warm, seine Hände schwitzten und seine Stirn tat es den Händen gleich. Trotz der Panikattacke und vielen Symptomen, wie unter anderem Herzrasen, Sauerstoffmangel bis hin zu Erstickungsgefühlen und Schwindel, versuchte er gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Dieser Weg der Verkündung war absolut unüblich, darum hatte er damit überhaupt nicht gerechnet und hatte sich nicht auf die bevorstehende Situation einstellen können.

Eilig versuchte er sich zu spüren, massierte mit kräftigem Druck seine Schläfen und bemühte sich, seine Atmung zu kontrollieren.

"Unser Prüfungsausschuss war sich ausnahmslos einig", fuhr Professor George munter fort und überreichte Michele überschwänglich das Zertifikat. "Herzlichen Glückwunsch, Kollege."

Toris überragende Beobachtungsgabe signalisierte ihr, dass es dem frischernannten Professor nicht gut zu gehen schien. Sie mischte sich ein und fragte ihn keck: "Professor, wollen Sie nicht unsere Klasse im nächsten Semester übernehmen?" Sie meinte es aber dennoch ernst, sehr ernst sogar. "Es wäre doch schon das letzte Semester. Ich glaube, dann hätte sogar unser Dummkopf Lennie eine Chance sein Studium zu schaffen."

Plötzlich verschwamm vor Micheles Auge alles zu einer einzigen Masse. Die Geräusche verklumpten um ihn herum und bekamen einen dumpfen Klang. Taubheit legte sich auf seinen Körper und richtete den Fokus auf seinen Magen, der nun darauf mit Übelkeit und wässrigem Speichel antwortete. Verzweifelt hielt sich der junge Mediziner die Hand vor dem Mund.

Es wäre an Peinlichkeit nicht zu überbieten, wenn er sich vor allen Leuten im Klassenraum übergeben müsste.

Mittlerweile wichen die freudigen Gesichtsausdrücke um ihn herum und machten der besorgniserregenden Miene Platz, was allerdings die Situation für ihn verschlimmerte.

"Doktor, äh Professor, geht es Ihnen nicht gut? Brauchen Sie Hilfe?", fragte Tori unruhig und ließ ihn nicht aus den Augen.

Der junge Mediziner spürte, dass er unter der Panikattacke zusammenzubrechen drohte und musste sich aus der unerträglichen Situation entziehen. "Ich komme gleich wieder", entschuldigte er sich beim hinaushechten aus dem Klassenzimmer.

Er schleppte sich auf die nächstliegende Toilette und übergab sich. Anschließend hielt er seine Handgelenke unter kaltes, fließendes Wasser und schleuderte sich etwas vom kühlen Nass auch ins Gesicht. Der Druck in seinem Kopf ließ allmählich nach. Nach ein paar Schlucken Leitungswasser wurde auch die Sicht wieder schärfer. "Verdammt", schimpfte er mit sich selbst und drehte den Wasserhahn wieder zu. Er stützte sich noch einen kurzen Moment auf dem Waschbecken ab und versuchte weiterhin seine Atmung zu regulieren.

Ihm war ja nicht erst seit gestern bekannt, dass er hin und wieder unter Panikattacken litt, sobald Menschenmassen auf ihn einstürzten. Allerdings war die letzte Attacke dieser Art schon einige Zeit her, sodass er beinahe vergessen hatte, wie furchtbar so eine Attacke zusetzen konnte. Aus diesem Grund war er auch froh, dass er die Panik soweit in den Griff bekommen hatte, solange er sich auf eine bevorstehende Situationen seelisch vorbereiten konnte. Zwar war er auch dann nicht vollkommen panikfrei, aber er konnte es auf ein erträgliches Maß drosseln und auf seine Symptome einwirken. Beispielsweise wie bei diesem Unterricht, der auch alles von ihm abverlangte, jedoch hatte er ausreichend Zeit sich im Vorfeld damit auseinanderzusetzen und darauf vorzubereiten.

Die jetzige Situation mit den vier Professoren hatte ihm wieder einmal mit aller Brutalität aufgezeigt, wie schmal der Grat war, auf dem er sich bewegte. Auf der anderen Seite war er sehr erleichtert, dass keine andere Persönlichkeit die Situation übernommen hatte, was in dem Fall sehr schnell hätte passieren können. Glück im Unglück, dachte er mit einer Prise Sarkasmus.

Micheles Körper hatte mittlerweile das Rebellieren eingestellt. Er hievte sich auf die Beine, atmete noch einmal tief ein und begab sich mit weichen Knien auf den Weg zurück ins Klassenzimmer.

Auf den Weg dorthin wirkte er massiv auf sich ein, damit er nicht von der nächsten Panikattacke übermannt werden konnte.


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