~ Vier Tage später ~
Micheles
vorletzter Tag in Riverview verabschiedete sich allmählich. Er hatte schon alle
Arbeiten seiner anvertrauten Klasse durchgesehen und benotet. Aber auch der
Professorenausschuss hatte Micheles Benotung festgelegt, nachdem seine
Unterrichtsmethode eingehend verfolgt worden war.
Die
Klausur, die er selbst erstellt hatte, sein Unterricht und seine schriftlichen
Werke sorgten für Staunen, aber auch manchmal für Entsetzen, im positiven
Sinne.
Ferner
hatte sein Roboter enorm an Gestalt zugenommen. Irgendetwas wollte jedoch nicht
so recht funktionieren und dem wollte er sich heute widmen.
Mit
all seiner Leidenschaft gab er sich der Technik hin und vergaß beinahe die
Zeit. Er brauchte nur noch einen verdammten Draht zusammenzulöten, dann müsste
es seiner Meinung nach vollbracht sein.
Er
linste auf seine Uhr. Es war weit nach Mitternacht, aber er konnte die Antwort
auf seine langgehegte Frage nicht auf den nächsten Tag verlegen, nicht so dicht
vor dem Ziel. Dazu war er viel zu neugierig und befand sich viel zu tief im
technischen Rausch.
Die
Spannung stieg ins Unermessliche, so kurz vor dem letzten Handgriff. Der Roboter
saß bereits fix und fertig auf der Werkbank, er musste sich nur noch eigenständig bewegen.
Michele
griff zum Lötkolben und befestigte die verdächtigten Elektroden, anschließend
schraubte er die letzte Schraube in das vorgesehene Gewinde. Skeptisch musterte
er den Roboter, der noch immer starr und bewegungslos auf seiner Werkbank saß.
Der
junge Mediziner leckte provokant seinen Zeigefinger an und drückte schwungvoll
den Powerknopf.
Kurz
darauf zischten elektrische Blitze durch das kalte Metall. Michele kniff die
Augen zusammen. Die Anspannung schoss über das Ziel hinaus. "Komm
schon!", feuerte er den Roboter an.
Die
Arme des Blechmannes setzten sich allmählich in Bewegung. Sein Kopf war kraftlos und
plumpste nach hinten weg. Gerade als Michele Hand anlegen wollte, damit der
Kopf nicht abfallen konnte, klappte der Kopf auch schon wieder nach vorn, dann bewegte er sich zuckend in die Senkrechte.
Große Metallaugen glotzten Michele an.
"Danke
Herrgott, er bewegt sich", jubelte Michele und reckte seine Arme in den
Himmel. Er freute sich seines Lebens, denn hiermit erfüllte sich ein
langgehegter Wunsch.
Der
Roboter sackte noch einmal in sich zusammen.
"Nein",
konsternierte Michele erstarrt, "jetzt bloß keinen Kurzen kriegen."
Doch
dann drehte der Blechmann nacheinander seine Gelenke und nahm einen self
check vor.
Es
folgte ein Signalton, anschließend sprang der Roboter von der Werkbank und kam
direkt vor Michele zum Stehen. Er blickte starr auf seinen Erfinder, während
dieser ihn abwartend musterte.
Ein
Knistern lag in der Luft. Für Michele war das ein unglaublicher Moment. Am
liebsten hätte er den Roboter geschüttelt, damit er endlich sprach.
"Hallo",
kam es endlich, aber noch abgehackt, weil der Sprachcheck noch nicht
vollständig durchgelaufen war. "Wie. lautet. mein. Name? Du. bist. mein.
Vater." Der Kopf drehte sich ein Mal um die eigene Achse, bis schließlich
große Metallaugen verwirrt auf Micheles Haut brannten.
Der
junge Doktor konnte es nicht glauben. Er hätte zweifelsohne Erfinder werden
sollen. Der Roboter war der Beweis, dass er es drauf gehabt hätte. Warum nicht
Arzt und Erfinder?, schoss es ihm durch den Kopf. Warum bin ich nicht gleich
drauf gekommen? Ich könnte locker beides machen, solange es mir die Zeit
erlaubt.
"Wie.
lautet mein. Name? Du bist. mein Vater.", wiederholte sich der Roboter.
Eine Sprachverbesserung wurde spürbar.
Michele
grinste. "Willkommen auf der Erde, Vito. Du bekommst einen bedeutsamen
Namen von mir. Vita bedeutet Leben und ich leite es in die maskuline Form ab,
also Vito."
Krass,
ich spreche mit meinem Roboter. Einfach nur unglaublich.
"Ja,
der Name. gefällt mir sehr. gut. Soll ich dich. Vater nennen?"
"Oh
nein, bloß nicht", erwiderte Michele abgehetzt, "ich heiße Michele.
Nenne mich einfach bei meinem Namen." Noch überwältigt hielt er sich die
Hand an seinem Mund und beobachtete argwöhnisch seine eigene Erfindung.
"Sehr
gern, Michele oder Meister. Ich überlege mir das. noch."
Es
war eigenartig. Irgendwie nannten ihn seine Mitmenschen, wie sie wollten.
Salvatore nannte ihn Chef, seine Mutter Micky, seine damaligen Mitschüler
Einstein oder Frankenstein, und jetzt fing sogar der Roboter auch noch damit
an. Er hatte doch aber einen Namen, darum verstand er die Problematik nicht,
diesen auch zu verwenden.
"Wie
fühlst du dich, Vito?"
"Gut.
Soll ich putzen?"
"Nein",
erwiderte Michele, "es ist spät. Ich gehe jetzt schlafen und was du
machst, weiß ich nicht. Was willst du denn gerne machen?"
"Ich
will auch schlafen", erwiderte Vito, wackelte an Michele vorbei und
verbreitete damit Aufbruchsstimmung.
Das
Haus besaß nur ein Bett und Michele war ganz und gar nicht daran interessiert,
sich dieses eine Bett mit seinem Roboter zu teilen.
~
~ ~
"Möchtest
du frühstücken?", hallte es unsichtbar durch den Raum, nachdem Michele
gedankenversunken das Wohnzimmer betreten hatte.
Der
junge Arzt erstarrte einen kurzen Moment, bis ihm sein Gedächtnis verriet, dass
er letzte Nacht einen Roboter gebaut hatte. Er musste sich an den Gedanken erst
noch gewöhnen. Allerdings musste er sich eingestehen, dass seine Erfindung viel
mehr Intelligenz abbekommen hatte, als erwartet.
"Nein,
danke", gab Michele kurz zurück und verschwand ins Badezimmer. Er schien
sich gerade die Zähne zu putzen, denn danach hörte sich seine etwas undeutliche
Frage an. "Weißt du noch deinen Namen?"
"Ich
heiße Vito. Das ist ein abgeleiteter Name von Vita und bedeutet Leben."
Michele
lugte durch den Türspalt und grinste. "Richtig", gab er zufrieden
zurück und kehrte dann in voller Lebensgröße im Wohnzimmer ein. "Kannst du
kochen?", wollte der junge Arzt schließlich wissen.
"Ja,
Meister. Ich kann Spaghetti, Salat, Thunfisch, Waffeln, Butterkekse ..."
"Okay",
unterbrach Michele ihn. "Ich habe nicht so viel Zeit, mir deine
programmierte Liste anzuhören. Ich weiß, was du alles kochen kannst, ich wollte
mich nur vergewissern, ob du das auch weißt. Ich muss jetzt zur Universität.
Heute ist mein letzter Tag, danach werden wir nach Hause fahren. Aber du
könntest vorher noch etwas kochen, ehe wir uns auf den langen Weg machen."
"Nach
Hause? Langer Weg?" Vito schaute beunruhigt zu seinem Erschaffer und hielt
sich die Hand vor dem Mund.
Als
Michele die glühenden Augen seines Roboters auf seiner Haut spürte, stellte er
verdutzt fest, dass der Roboter sogar Mimik hatte. Zumindest meinte er in Vitos
Gesichtsausdruck eine Emotion gesehen zu haben. "Hier wohnen wir nicht,
Vito. Erst heute Abend wirst du dein Zuhause kennenlernen und dort bekommst du dann
auch dein eigenes Bett. Bis nachher. Ich bin gegen vierzehn Uhr wieder zurück.
Mach keinen Blödsinn während meiner Abwesenheit." Michele änderte seine
Richtung, huschte zu seiner Reisetasche und kam mit ein paar Bücher zurück. Er
legte sie auf den Tisch und ordnete an: "Lese alle Bücher durch. Ich frage
nachher dein Wissen ab", drohte er im nächsten Atemzug, damit der Roboter
erst gar nicht auf dumme Ideen kam.
Der
junge Mediziner musste sich sputen. Er stellte eilig sein Auto auf dem
Parkplatz ab und hetzte ins Klassenzimmer. "Guten Morgen", begrüßte
er alle Studenten, nachdem er es betreten hatte. Alle Studenten begrüßten auch
ihn im Chor und wünschten ebenso einen guten Morgen.
Irritiert
beäugte er einen leeren Platz. "Weiß jemand, ob Lennie noch erscheinen
wird?"
"Ich
glaube nicht, dass er noch kommen wird", antwortete Mia genervt.
Michele
konnte sich denken, warum Lennie nicht zum Unterricht erschienen war,
schließlich hatte er seine Klausur benoten müssen. Der junge Mediziner konnte
das Schuldgefühl nicht ablegen und verbuchte Lennies schlechte Klausur auf sein
eigenes Konto, weil er anscheinend nicht in der Lage gewesen war, den Stoff zureichend
zu vermitteln.
Tori
bemerkte es an Micheles betroffenem Gesichtsausdruck und schritt ein: "Es
ist nicht Ihre Schuld, Doktor. Ich glaube, Lennie hat in letzter Zeit keine
gute Phase. Er hat sich schon seit geraumer Zeit beschwert, dass er dem
Unterricht nicht mehr folgen kann."
Micheles
Miene hellte sich ein wenig auf. Nicht, weil er Toris trostspendenden Worte
wirklich annehmen konnte, sondern weil ihm die junge Frau, mit der besten Klausur
und voller Punktzahl, versuchte zuzusprechen.
~
~ ~
Die
letzte viertel Stunde seines Unterrichts war angebrochen, als unerwartet die
Tür aufging. Einige Herren betraten den Raum, unter anderem auch Professor
George, der anscheinend extra angereist war. Er reichte Michele die Hand und lächelte.
"Ich habe von Ihrer hervorragenden Leistung gehört und konnte es mir nicht
nehmen lassen, nach Riverview zu kommen, um vor Ihrer Klasse zu verkünden, dass
Sie heute die Universität als Professor verlassen werden." Professor
George stellte Michele zwar noch seinen Kollegen vor, aber der junge Mediziner nahm das kaum noch
wahr.
Ein
Raunen vieler Stimmen füllte den Raum. Tori riss es vor Begeisterung vom Stuhl.
Sie sprang auf und klatschte euphorisch in ihre Hände. "Glückwunsch",
jubelte sie ungebremst. Anschließend riss es auch die restlichen Studenten von
den Stühlen. Das laute Klatschen verhinderte jede weitere Unterhaltung.
Michele
stand total überrumpelt am Lehrerpult. Es hatte ihm die Sprache komplett
verschlagen. Derartiges mochte er ganz und gar nicht. Ihm wurde warm, seine
Hände schwitzten und seine Stirn tat es den Händen gleich. Trotz der
Panikattacke und vielen Symptomen, wie unter anderem Herzrasen,
Sauerstoffmangel bis hin zu Erstickungsgefühlen und Schwindel, versuchte er gute
Miene zum bösen Spiel zu machen. Dieser Weg der Verkündung war absolut
unüblich, darum hatte er damit überhaupt nicht gerechnet und hatte sich nicht auf
die bevorstehende Situation einstellen können.
Eilig
versuchte er sich zu spüren, massierte mit kräftigem Druck seine Schläfen und
bemühte sich, seine Atmung zu kontrollieren.
"Unser
Prüfungsausschuss war sich ausnahmslos einig", fuhr Professor George
munter fort und überreichte Michele überschwänglich das Zertifikat.
"Herzlichen Glückwunsch, Kollege."
Toris
überragende Beobachtungsgabe signalisierte ihr, dass es dem frischernannten
Professor nicht gut zu gehen schien. Sie mischte sich ein und fragte ihn keck:
"Professor, wollen Sie nicht unsere Klasse im nächsten Semester
übernehmen?" Sie meinte es aber dennoch ernst, sehr ernst sogar. "Es
wäre doch schon das letzte Semester. Ich glaube, dann hätte sogar unser
Dummkopf Lennie eine Chance sein Studium zu schaffen."
Plötzlich verschwamm vor
Micheles Auge alles zu einer einzigen Masse. Die Geräusche
verklumpten um ihn herum und bekamen einen dumpfen Klang. Taubheit legte sich auf seinen Körper und richtete den
Fokus auf seinen Magen, der nun darauf mit Übelkeit und wässrigem Speichel antwortete. Verzweifelt hielt sich der junge Mediziner die Hand vor dem Mund.
Es
wäre an Peinlichkeit nicht zu überbieten, wenn er sich vor allen Leuten im
Klassenraum übergeben müsste.
Mittlerweile
wichen die freudigen Gesichtsausdrücke um ihn herum und machten der
besorgniserregenden Miene Platz, was allerdings die Situation für ihn
verschlimmerte.
"Doktor, äh Professor,
geht es Ihnen nicht gut? Brauchen Sie Hilfe?", fragte Tori unruhig und ließ ihn nicht aus den Augen.
Der
junge Mediziner spürte, dass er unter der Panikattacke zusammenzubrechen drohte
und musste sich aus der unerträglichen Situation entziehen. "Ich komme gleich
wieder", entschuldigte er sich beim hinaushechten aus dem Klassenzimmer.
Er
schleppte sich auf die nächstliegende Toilette und übergab sich. Anschließend
hielt er seine Handgelenke unter kaltes, fließendes Wasser und schleuderte sich
etwas vom kühlen Nass auch ins Gesicht. Der Druck in seinem Kopf ließ allmählich
nach. Nach ein paar Schlucken Leitungswasser wurde auch die Sicht wieder schärfer.
"Verdammt", schimpfte er mit sich selbst und drehte den Wasserhahn wieder zu. Er
stützte sich noch einen kurzen Moment auf dem Waschbecken ab und versuchte
weiterhin seine Atmung zu regulieren.
Ihm
war ja nicht erst seit gestern bekannt, dass er hin und wieder unter
Panikattacken litt, sobald Menschenmassen auf ihn einstürzten. Allerdings war
die letzte Attacke dieser Art schon einige Zeit her, sodass er beinahe
vergessen hatte, wie furchtbar so eine Attacke zusetzen konnte. Aus diesem Grund
war er auch froh, dass er die Panik soweit in den Griff bekommen hatte,
solange er sich auf eine bevorstehende Situationen seelisch vorbereiten konnte. Zwar war er auch
dann nicht vollkommen panikfrei, aber er konnte es auf ein erträgliches Maß
drosseln und auf seine Symptome einwirken. Beispielsweise wie bei diesem
Unterricht, der auch alles von ihm abverlangte, jedoch hatte er ausreichend Zeit
sich im Vorfeld damit auseinanderzusetzen und darauf vorzubereiten.
Die
jetzige Situation mit den vier Professoren hatte ihm wieder einmal mit aller
Brutalität aufgezeigt, wie schmal der Grat war, auf dem er sich bewegte. Auf der
anderen Seite war er sehr erleichtert, dass keine andere Persönlichkeit die
Situation übernommen hatte, was in dem Fall sehr schnell hätte passieren
können. Glück im Unglück, dachte er mit einer Prise Sarkasmus.
Micheles
Körper hatte mittlerweile das Rebellieren eingestellt. Er hievte sich auf die
Beine, atmete noch einmal tief ein und begab sich mit weichen Knien auf den Weg
zurück ins Klassenzimmer.
Auf
den Weg dorthin wirkte er massiv auf sich ein, damit er nicht von der nächsten
Panikattacke übermannt werden konnte.
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