Michele wachte noch vor
dem Weckerklingeln auf. Er schlürfte benommen in die Küche, nahm sich ein Tetra Pack und
pflanzte sich damit ans Fenster.
Viele Gedanken kreisten unaufgefordert. Er
hatte seine erste Unterrichtsstunde und obwohl er viele Menschen dicht um sich herum nicht
sonderlich gut ertrug, tat er sich das an, weil daran kein Weg vorbeiführte.
Ein Professor war mitunter verpflichtet an Universitäten Unterrichtsstunden zu
absolvieren und wissenschaftliche Berichte zu verfassen. Das bedeutete, dass er
fortan mit vielen jungen Studenten zusammentraf. Allerdings bedeutete das auch,
dass diese Studenten keinen hohen Altersunterschied zu ihm aufweisen würden.
Er rechnete schon damit,
dass er auf Getuschel treffen würde, weil sein Alter untypisch für einen
Professor war. In der Regel waren Bewerber für eine Professur um die vierzig
Jahre alt. Davon war Michele noch sehr weit entfernt. Seine wissenschaftlichen Berichte,
sein Doktortitel, all das konnte er bereits vorweisen. Es gab für ihn keinen
Grund abzuwarten.
Seit einigen Jahren gab
es die Möglichkeit, direkt nach der Promotion Juniorprofessor zu werden und
diese neue Tür, die geschaffen worden war, wollte der junge Doktor auf gar
keinen Fall verschlossen lassen.
Neben seiner derzeitigen
Tätigkeit als Chirurg, würde Michele fortan Studenten unterrichten und sein überragendes
Wissen weitervermitteln. Allerdings war sein gewünschter Tätigkeitsbereich
nicht die Chirurgie, sondern die Pädiatrie, jedoch besaß die twinbrooker
Klinik keine Pädiatrie.
Die Universitäten
schlugen sich recht schnell um ihn, weil sich sein Alter als Vorzeigemediziner
dafür hervorragend eignete. Er diente beinahe als Attraktion. Michele wiederum
fühlte sich wie ein Tier im Käfig eines Zoos. Die Menschen würden vor seinem
Käfig stehenbleiben und ihn begaffen. Die Aufmerksamkeit, die er schon immer
bekommen hatte, egal in welcher Form, kannte er seit der Grundschule, aber er konnte
sich nie daran gewöhnen, sondern es nur ignorieren.
Nachdem Michele die
Morgendusche genommen und sich angezogen hatte, ging er in die Garage und schon
auf dem kurzen Weg dorthin gefiel ihm das ländliche Riverview sehr. Hier war es
still, natürliche Stille die ihn umhüllte. Hinter dem Mietshaus strömte ein
kleiner Bach entlang und vor dem Haus standen viele große Bäume, die für reinen
Sauerstoff sorgten. Er spürte sofort, dass er sich hier wohlfühlen würde.
Er stieg in sein Auto und
machte sich auf den Weg zur Universität.
~
~ ~
"Lennie, wenn du
jetzt nicht deinen Arsch in Bewegung setzt, kommen wir zu spät. Ich warte
höchstens noch fünf Minuten auf dich, aber nicht länger. Ich will nicht gleich
am ersten Tag zu spät kommen", schimpfte Tori in der großen Halle.
"Ich brauche nur
noch 'ne Minute", sagte Betty und hechelte an Tori vorbei in die Küche. "Ich habe meine Waffeln vergessen."
Mia kam die Stufen
hinunter gepoltert und war für die Uni bereit. Nur die Jungs hatten es nicht
sonderlich eilig. "Okay, ich bin dann weg", grummelte Tori und
öffnete die Haustür. "Tschööö", rief sie ein letztes Mal warnend durch
das Studentenwohnheim.
"Warte!", kam
es von oben. "Wir kommen!"
Kurze Zeit später trafen
sie endlich im Klassenzimmer ein und setzten sich auf ihre Plätze.
"Na, wo ist denn der
neue Prof", äffte Lennie und verdrehte seine Augen. "Rolator nicht
angesprungen?"
"Lennie, du hast
echt keine Ahnung. Wenn er das fünfzigste Lebensjahr vollendet hat, kann er
kein Professor mehr werden. Sowas solltest du aber wissen, gehört zumindest in
deinem Bereich zur Allgemeinbildung, du Pro." Tori zeigte ihrem
Mitbewohner einen Vogel und richtete ihr Gesicht auf die Tafel. Sie war schon
sehr gespannt auf den Verfasser des KISS Berichtes, denn das war ein Thema, was
sie enorm interessierte.
"Schlechte
Laune?", fragte er abfällig.
Tori sagte nichts,
sondern bedachte ihn nur mit einem scharfen Blick, damit er endlich seine
Klappe hielt.
Als sich schließlich die Tür
öffnete und Michele das Klassenzimmer betrat, schauten sich viele dumme
Gesichter gegenseitig abwechselnd an. "Tori, willst du uns
verarschen?", fragte Lennie verwundert und runzelte irritiert seine Stirn.
Tori zuckte mit den Schultern,
während Mia hinter ihr kicherte.
"Das ist unser
Neuer, wetten?", sagte Pietro aus der anderen Ecke und grinste breit, auch
Betty kicherte jetzt.
Michele kam vor dem
Schreibtisch zum Stehen, begrüßte freundlich die Klasse und stellte sich vor.
Natürlich blieben ihm die fragenden Gesichtsausdrücke der Studenten nicht
verborgen. Er hatte ja nichts anderes erwartet. "Würden Sie sich bitte mir
auch einzeln vorstellen?", bat Michele, ehe er mit der Stunde anfangen
wollte.
"Uuuuh,
Leckerchen", huschte es ganz leise aus Mia heraus, aber laut genug, dass
Tori und Lennie es hören konnten.
~ ~ ~
Micheles erster Tag als
Dozent ging zu Ende. Nachdem er den Unterrichtsstoff für den nächsten Tag
vorbereitet hatte, begann er seinen Plan in die Tat umzusetzen und widmete sich
der Erfinderei. Er nahm das Werkzeug in die Hand und begann zu schrauben, Drähte
zu verknoten und zu löten.
Währenddessen versank er
in tiefe Gedanken. Er setzte jeden Handgriff beinahe automatisch und sog die
Magie der Technik tief in sich hinein.
Er dachte an seine beiden
Kinder. Ihre Geburtstage und Giulias Einschulung standen vor der Tür. Das
Mädchen hatte viel von ihm geerbt. Nach Micheles Geschmack viel zu viel, denn
er konnte sich vorstellen, dass es unter den Umständen schwer für Giulia werden
würde, mit Sofia auszukommen. Sofia konnte zwar ein liebenswerter Mensch sein,
aber manchmal musste man Nerven aus Drahtseilen besitzen, damit man ihr
oberflächliches Gesäusel dauerhaft ertragen konnte. Die ersten Beschwerden
seiner Tochter hatten ihn sogar schon erreicht und er hatte stets mit
Engelszungen auf seine kleine Tochter eingeredet.
~
~ ~
"Was war bitteschön
DAS?", fragte Lennie am Essentisch beim Abendbrot. Es war ersichtlich,
dass er noch immer von Michele geschockt war. "Wenn der Professor wird,
dann fress ich einen Besen."
Tori schmierte sich ein
Marmeladentoast und gesellte sich zu den anderen an den Tisch. "Er ist der
absolute Hammer", stellte sie begeistert fest. "Hat irgendwer überhaupt mal einen seiner Berichte gelesen?" Tori blickte in viele
leere Gesichter. Sie grinste, nahm einen Bissen und sprach kauend weiter.
"Warum wundert mich das nicht?", sagte sie kopfschüttelnd.
"Jetzt weißt du, warum er bereits Professor werden will und du beim
Studium abkackst." Dieser Seitenhieb ging an Lennie's großen Mundwerk.
"Ich habe einen
gelesen", gab Betty zögerlich zu. "Naja", sprach sie schließlich
weiter und verdrehte dabei kurz ihre Augen, "in Wirklichkeit habe ich auch
alle Berichte von ihm gelesen." Sie errötete und schaute stur auf ihren Teller.
"Ist dir das etwa
peinlich?", wollte Tori wissen, weil sie ihr merkwürdiges Verhalten
absolut nicht nachvollziehen konnte.
Betty schüttelte den
Kopf. "Nein, ist es nicht. Naja, vielleicht ein bisschen, weil ihr mich
für einen Schleimer halten könntet. Aber an seinem Schreibstil konnte ich schon
erkennen, dass er noch nicht sehr alt sein kann. Er schreibt so modern und
nicht trocken. Dass er allerdings so jung ist, damit habe ich auch nicht
gerechnet. Der ist schon sehr attraktiv, finde ich."
"Buuuuh",
machten die Jungs im Chor, aber Tori unterstützte ihre Kommilitonin heldenhaft.
"Das hat doch nichts mit schleimen zutun. Ich fand seinen Schreibstil auch
erfrischend. Er knallt einem keine trockene Wissenschaft um die Ohren, sondern
lockert den Text mit seiner gekonnten Wortwahl auf. Ich habe auch alle
gelesen." Sie presste ihre Lippen zusammen und schenkte Lennie eine
Grimasse.
"Weiber",
schleuderte Pietro trivial über den Tisch. "Aber hey, macht ja keinen
dummen Spruch über ihn, er ist ein Landsmann von mir. Vielleicht berücksichtigt
er das bei seiner Benotung. Am besten, ich male auf die Klausur eine
italienische Flagge."
Tori musste schon wieder
über so viel Dummheit ihren Kopf schütteln. Seitdem sie hier war, könnte sie
mit Kopfshaken sicherlich einen Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde
beantragen.
"Apropos
Benotung", warf Mia dazwischen. "Was macht ihr eigentlich in den
Ferien? Fahrt ihr nach Hause? Die sind ja schon Ende der Woche."
Betty schüttelte den
Kopf. "Nee, ich bleibe hier. Zuhause erwartet mich ja doch nichts. Was soll
ich dann da? Hier habe ich Leute um mich herum und kann Partys machen."
"Ich fahre nach
Hause", erwiderte Pietro. "Meine Eltern brauchen mich im Laden."
Genervt hob er seine Augenbrauen und verzog seine Mundwinkel.
Mia erhob sich vom Stuhl
und brachte vorbildlich ihren Teller in die Küche. "Und ihr?", hakte
sie auf den Weg in die Küche nach.
"Ich werde auch
hierbleiben", antwortete Tori. "Aber ich werde keine Partys machen,
sondern pauken. Unser neuer Dozent ist der lebende Beweis dafür, dass man es
schaffen kann. Ich bin motiviert." Der Seitenhieb kam bei Betty prompt an.
Sie antwortete nur mit einem Knurren und aß weiter.
Lennie aß emotionslos
seinen Teller leer und ließ die Frage unbeantwortet an sich vorbeiziehen.
Aber Mia ließ das nicht
gelten. Als sie aus der Küche zurück war, hakte sie nach: "Lennie, und
du?"
Er legte das Essbesteck
aus der Hand, drehte sich auf dem Sitz und beugte sich geheimnisvoll zu ihr
vor. "Ich habe noch keine Ahnung. Mal sehen. Was ist mit dir? Wenn du
bleibst, dann bleibe ich natürlich auch und wir hätten viiiiel Zeit für
..."
"Uh", machte
Pietro und ließ seine Augenbrauen auf und ab tanzen. So, als wäre er dem
Geheimnis, den eigentlich alle schon kannten, auf die Schliche gekommen.
"Hm", machte
Mia und überlegte gespielt lange vor sich hin, nachdem der erste
Überraschungseffekt von ihr abgelassen hatte. "Vielleicht überlege ich mir
ja noch, nicht nach Hause zu fahren, wenn du dich in den verbleibenden Tagen
richtig ins Zeug legst. Aber nur dann", reagierte sie auf Lennies Äußerung
süffisant. Mia war von Lennie genauso wenig abgeneigt, wie er von
ihr, aber sie wollte sich keinen Verlierer anlachen und seine derzeitigen Noten
und Motivation steuerten direkt darauf zu. Ein Michele wäre für sie um Vieles
interessanter.
~
~ ~
~ Rückblick ~
"Wann wollen wir
eigentlich zuschlagen? Es ist total legitim, wenn wir jetzt die Seelen
einkassieren würden. Ich hätte total Appetit auf das angstvolle
Geschreie." Ein riechendes Knurren entwich seiner Kehle. "Sie haben gegen
die Regeln mehrfach verstoßen." Er ließ Sandra und Laura bei ihrem Treiben
nicht aus den Augen und schmatzte währenddessen unkontrolliert vor sich hin.
"Du willst böse
sein? Lächerlich", grunzte die andere Gestalt. "Klar dürfen wir
zuschlagen, das weiß doch jedes Kind. Aber unser großer Manitu möchte noch ein
bisschen warten. Es ist nämlich uns überlassen, wann, wo und wie. Er hat vorhin
zu mir gesagt, dass das kontraproduktiv wäre, sie jetzt schon aus dem Verkehr
zu ziehen. Und jetzt darfst du mal dein totes, vergammeltes Hirn anschmeißen
und mir sagen, welcher Hintergedanke sich darin verbirgt."
"Woher soll ich das
wissen? So lange bin ich ja noch nicht dabei." Eine unbeabsichtigte
Bewegung verriet die Gestalten beinahe. Ein Holzstück hatte laut unter den
Sohlen der lechzenden Gestalt geknackt. Laura und Sandra wandten sich hektisch
dem Geräusch zu und untersuchten jeden Winkel.
"Hast du das auch
gehört?", flüsterte Sandra ängstlich, während Laura den Pinsel weglegte
und sich neben ihre Freundin schutzsuchend aufstellte.
"Ja", erwiderte
das kleine Mädchen eingeschüchtert.
"Dann habe ich
nichts an den Ohren. Hier ist jemand. Aber vielleicht war das auch nur ein
wildes Tier. Könnte ja möglich sein", versuchte Sandra ihre Panik zu
regulieren.
"Wollen wir lieber
abhauen?" Laura war mittlerweile verunsichert und stellte plötzlich alle
bereits unternommenen Aktionen in Frage.
Sandra war ratlos und
suchte permanent den Garten nach Hinweisen ab. "Komm, wir verstecken uns
hinter dem Baum, vielleicht kommt dann das Tier hervor, dass das Geräusch
verursacht hat", sagte sie ganz leise hinter vorgehaltener Hand und ging
vor.
"Okay",
willigte Laura ein und folgte Sandra auf leisen Sohlen in ein Versteck.
Die Mädchen warteten ein
paar Minuten, nichts tat sich. "Wir werden beobachtet." Laura drohte unter
der nervlichen Belastung allmählich zusammenzubrechen.
"Pst, bleib ruhig.
Bestimmt war das nur ein Tier." Sandra glaubte an dieser Theorie nicht
wirklich, aber sie hoffte es sehnlichst.
Weitere Minuten zogen ins
Land. Sandra und Laura standen noch immer regungslos hinter dem Baum und trauten
sich nicht mehr hervor.
Plötzlich kniff Sandra
ihre Augen zusammen und beugte sich vor. Sie konnte verschwommen, nur ganz
schwach, an der Eisstatue ihres Liebsten etwas Bewegliches sehen. Es kam direkt
auf sie zu und nahm immer stärkere Konturen an. "Ha", machte Sandra
schließlich erleichtert. "Dahinten ist eine Katze. Puh." Ihr fiel ein
gewaltiger Stein vom Herzen.
Laura traute sich aus dem
Versteck, erst nachdem Sandra es verlassen hatte. Auch sie konnte mittlerweile
die Katze erkennen, die direkt auf die beiden Mädchen zusteuerte. "Meine
Güte, ich habe mir fast in die Hose gemacht." Sie lachte laut auf und
beugte sich zu der Katze hinunter. "Hey, du bist zahm?" fragte sie
den Rumstreuner.
"Nicht",
schritt Sandra ein. "Fass sie lieber nicht an."
"Warum
denn nicht? Die ist total süß."
"Ich
weiß nicht", gestand Sandra irritiert, aber irgendetwas gefiel ihr im
ersten Moment an der Situation überhaupt nicht, sie konnte nur noch nicht
greifen, was es genau war. "Ich mag Katzen nicht sonderlich."
"Ich
schon", erwiderte Laura, hockte sich zu der Katze hinunter und streichelte
das schnurrende Bündel. "Siehst du, sie ist ganz lieb." Dann wandte
sie sich wieder der Katze zu: "Haben wir dich etwa beim Mäusejagen
gestört?"
Sandra
wollte Laura nicht beunruhigen, deshalb schluckte sie ihre Frage hinunter, die
sie sich selbst auch stelle.
Textlänge:
2.144 Wörter
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen