Montag, 29. Januar 2018

Teil 195 - Ist dir das peinlich? ...


Michele wachte noch vor dem Weckerklingeln auf. Er schlürfte benommen in die Küche, nahm sich ein Tetra Pack und pflanzte sich damit ans Fenster.

Viele Gedanken kreisten unaufgefordert. Er hatte seine erste Unterrichtsstunde und obwohl er viele Menschen dicht um sich herum nicht sonderlich gut ertrug, tat er sich das an, weil daran kein Weg vorbeiführte. Ein Professor war mitunter verpflichtet an Universitäten Unterrichtsstunden zu absolvieren und wissenschaftliche Berichte zu verfassen. Das bedeutete, dass er fortan mit vielen jungen Studenten zusammentraf. Allerdings bedeutete das auch, dass diese Studenten keinen hohen Altersunterschied zu ihm aufweisen würden.

Er rechnete schon damit, dass er auf Getuschel treffen würde, weil sein Alter untypisch für einen Professor war. In der Regel waren Bewerber für eine Professur um die vierzig Jahre alt. Davon war Michele noch sehr weit entfernt. Seine wissenschaftlichen Berichte, sein Doktortitel, all das konnte er bereits vorweisen. Es gab für ihn keinen Grund abzuwarten.

Seit einigen Jahren gab es die Möglichkeit, direkt nach der Promotion Juniorprofessor zu werden und diese neue Tür, die geschaffen worden war, wollte der junge Doktor auf gar keinen Fall verschlossen lassen.

Neben seiner derzeitigen Tätigkeit als Chirurg, würde Michele fortan Studenten unterrichten und sein überragendes Wissen weitervermitteln. Allerdings war sein gewünschter Tätigkeitsbereich nicht die Chirurgie, sondern die Pädiatrie, jedoch besaß die twinbrooker Klinik keine Pädiatrie.

Die Universitäten schlugen sich recht schnell um ihn, weil sich sein Alter als Vorzeigemediziner dafür hervorragend eignete. Er diente beinahe als Attraktion. Michele wiederum fühlte sich wie ein Tier im Käfig eines Zoos. Die Menschen würden vor seinem Käfig stehenbleiben und ihn begaffen. Die Aufmerksamkeit, die er schon immer bekommen hatte, egal in welcher Form, kannte er seit der Grundschule, aber er konnte sich nie daran gewöhnen, sondern es nur ignorieren.

Nachdem Michele die Morgendusche genommen und sich angezogen hatte, ging er in die Garage und schon auf dem kurzen Weg dorthin gefiel ihm das ländliche Riverview sehr. Hier war es still, natürliche Stille die ihn umhüllte. Hinter dem Mietshaus strömte ein kleiner Bach entlang und vor dem Haus standen viele große Bäume, die für reinen Sauerstoff sorgten. Er spürte sofort, dass er sich hier wohlfühlen würde.

Er stieg in sein Auto und machte sich auf den Weg zur Universität.

~ ~ ~

"Lennie, wenn du jetzt nicht deinen Arsch in Bewegung setzt, kommen wir zu spät. Ich warte höchstens noch fünf Minuten auf dich, aber nicht länger. Ich will nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen", schimpfte Tori in der großen Halle.

"Ich brauche nur noch 'ne Minute", sagte Betty und hechelte an Tori vorbei in die Küche. "Ich habe meine Waffeln vergessen."

Mia kam die Stufen hinunter gepoltert und war für die Uni bereit. Nur die Jungs hatten es nicht sonderlich eilig. "Okay, ich bin dann weg", grummelte Tori und öffnete die Haustür. "Tschööö", rief sie ein letztes Mal warnend durch das Studentenwohnheim.

"Warte!", kam es von oben. "Wir kommen!"

Kurze Zeit später trafen sie endlich im Klassenzimmer ein und setzten sich auf ihre Plätze.

"Na, wo ist denn der neue Prof", äffte Lennie und verdrehte seine Augen. "Rolator nicht angesprungen?"

"Lennie, du hast echt keine Ahnung. Wenn er das fünfzigste Lebensjahr vollendet hat, kann er kein Professor mehr werden. Sowas solltest du aber wissen, gehört zumindest in deinem Bereich zur Allgemeinbildung, du Pro." Tori zeigte ihrem Mitbewohner einen Vogel und richtete ihr Gesicht auf die Tafel. Sie war schon sehr gespannt auf den Verfasser des KISS Berichtes, denn das war ein Thema, was sie enorm interessierte.

"Schlechte Laune?", fragte er abfällig.

Tori sagte nichts, sondern bedachte ihn nur mit einem scharfen Blick, damit er endlich seine Klappe hielt.

Als sich schließlich die Tür öffnete und Michele das Klassenzimmer betrat, schauten sich viele dumme Gesichter gegenseitig abwechselnd an. "Tori, willst du uns verarschen?", fragte Lennie verwundert und runzelte irritiert seine Stirn.

Tori zuckte mit den Schultern, während Mia hinter ihr kicherte.

"Das ist unser Neuer, wetten?", sagte Pietro aus der anderen Ecke und grinste breit, auch Betty kicherte jetzt.

Michele kam vor dem Schreibtisch zum Stehen, begrüßte freundlich die Klasse und stellte sich vor. Natürlich blieben ihm die fragenden Gesichtsausdrücke der Studenten nicht verborgen. Er hatte ja nichts anderes erwartet. "Würden Sie sich bitte mir auch einzeln vorstellen?", bat Michele, ehe er mit der Stunde anfangen wollte.

"Uuuuh, Leckerchen", huschte es ganz leise aus Mia heraus, aber laut genug, dass Tori und Lennie es hören konnten.

~ ~ ~

Micheles erster Tag als Dozent ging zu Ende. Nachdem er den Unterrichtsstoff für den nächsten Tag vorbereitet hatte, begann er seinen Plan in die Tat umzusetzen und widmete sich der Erfinderei. Er nahm das Werkzeug in die Hand und begann zu schrauben, Drähte zu verknoten und zu löten.

Währenddessen versank er in tiefe Gedanken. Er setzte jeden Handgriff beinahe automatisch und sog die Magie der Technik tief in sich hinein.

Er dachte an seine beiden Kinder. Ihre Geburtstage und Giulias Einschulung standen vor der Tür. Das Mädchen hatte viel von ihm geerbt. Nach Micheles Geschmack viel zu viel, denn er konnte sich vorstellen, dass es unter den Umständen schwer für Giulia werden würde, mit Sofia auszukommen. Sofia konnte zwar ein liebenswerter Mensch sein, aber manchmal musste man Nerven aus Drahtseilen besitzen, damit man ihr oberflächliches Gesäusel dauerhaft ertragen konnte. Die ersten Beschwerden seiner Tochter hatten ihn sogar schon erreicht und er hatte stets mit Engelszungen auf seine kleine Tochter eingeredet.

~ ~ ~

"Was war bitteschön DAS?", fragte Lennie am Essentisch beim Abendbrot. Es war ersichtlich, dass er noch immer von Michele geschockt war. "Wenn der Professor wird, dann fress ich einen Besen."

Tori schmierte sich ein Marmeladentoast und gesellte sich zu den anderen an den Tisch. "Er ist der absolute Hammer", stellte sie begeistert fest. "Hat irgendwer überhaupt mal einen seiner Berichte gelesen?" Tori blickte in viele leere Gesichter. Sie grinste, nahm einen Bissen und sprach kauend weiter. "Warum wundert mich das nicht?", sagte sie kopfschüttelnd. "Jetzt weißt du, warum er bereits Professor werden will und du beim Studium abkackst." Dieser Seitenhieb ging an Lennie's großen Mundwerk.

"Ich habe einen gelesen", gab Betty zögerlich zu. "Naja", sprach sie schließlich weiter und verdrehte dabei kurz ihre Augen, "in Wirklichkeit habe ich auch alle Berichte von ihm gelesen." Sie errötete und schaute stur auf ihren Teller.

"Ist dir das etwa peinlich?", wollte Tori wissen, weil sie ihr merkwürdiges Verhalten absolut nicht nachvollziehen konnte.

Betty schüttelte den Kopf. "Nein, ist es nicht. Naja, vielleicht ein bisschen, weil ihr mich für einen Schleimer halten könntet. Aber an seinem Schreibstil konnte ich schon erkennen, dass er noch nicht sehr alt sein kann. Er schreibt so modern und nicht trocken. Dass er allerdings so jung ist, damit habe ich auch nicht gerechnet. Der ist schon sehr attraktiv, finde ich."

"Buuuuh", machten die Jungs im Chor, aber Tori unterstützte ihre Kommilitonin heldenhaft. "Das hat doch nichts mit schleimen zutun. Ich fand seinen Schreibstil auch erfrischend. Er knallt einem keine trockene Wissenschaft um die Ohren, sondern lockert den Text mit seiner gekonnten Wortwahl auf. Ich habe auch alle gelesen." Sie presste ihre Lippen zusammen und schenkte Lennie eine Grimasse.

"Weiber", schleuderte Pietro trivial über den Tisch. "Aber hey, macht ja keinen dummen Spruch über ihn, er ist ein Landsmann von mir. Vielleicht berücksichtigt er das bei seiner Benotung. Am besten, ich male auf die Klausur eine italienische Flagge."

Tori musste schon wieder über so viel Dummheit ihren Kopf schütteln. Seitdem sie hier war, könnte sie mit Kopfshaken sicherlich einen Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde beantragen.

"Apropos Benotung", warf Mia dazwischen. "Was macht ihr eigentlich in den Ferien? Fahrt ihr nach Hause? Die sind ja schon Ende der Woche."

Betty schüttelte den Kopf. "Nee, ich bleibe hier. Zuhause erwartet mich ja doch nichts. Was soll ich dann da? Hier habe ich Leute um mich herum und kann Partys machen."

"Ich fahre nach Hause", erwiderte Pietro. "Meine Eltern brauchen mich im Laden." Genervt hob er seine Augenbrauen und verzog seine Mundwinkel.

Mia erhob sich vom Stuhl und brachte vorbildlich ihren Teller in die Küche. "Und ihr?", hakte sie auf den Weg in die Küche nach.

"Ich werde auch hierbleiben", antwortete Tori. "Aber ich werde keine Partys machen, sondern pauken. Unser neuer Dozent ist der lebende Beweis dafür, dass man es schaffen kann. Ich bin motiviert." Der Seitenhieb kam bei Betty prompt an. Sie antwortete nur mit einem Knurren und aß weiter.

Lennie aß emotionslos seinen Teller leer und ließ die Frage unbeantwortet an sich vorbeiziehen.

Aber Mia ließ das nicht gelten. Als sie aus der Küche zurück war, hakte sie nach: "Lennie, und du?"

Er legte das Essbesteck aus der Hand, drehte sich auf dem Sitz und beugte sich geheimnisvoll zu ihr vor. "Ich habe noch keine Ahnung. Mal sehen. Was ist mit dir? Wenn du bleibst, dann bleibe ich natürlich auch und wir hätten viiiiel Zeit für ..."

"Uh", machte Pietro und ließ seine Augenbrauen auf und ab tanzen. So, als wäre er dem Geheimnis, den eigentlich alle schon kannten, auf die Schliche gekommen.

"Hm", machte Mia und überlegte gespielt lange vor sich hin, nachdem der erste Überraschungseffekt von ihr abgelassen hatte. "Vielleicht überlege ich mir ja noch, nicht nach Hause zu fahren, wenn du dich in den verbleibenden Tagen richtig ins Zeug legst. Aber nur dann", reagierte sie auf Lennies Äußerung süffisant. Mia war von Lennie genauso wenig  abgeneigt, wie er von ihr, aber sie wollte sich keinen Verlierer anlachen und seine derzeitigen Noten und Motivation steuerten direkt darauf zu. Ein Michele wäre für sie um Vieles interessanter.

~ ~ ~

~ Rückblick ~

"Wann wollen wir eigentlich zuschlagen? Es ist total legitim, wenn wir jetzt die Seelen einkassieren würden. Ich hätte total Appetit auf das angstvolle Geschreie." Ein riechendes Knurren entwich seiner Kehle. "Sie haben gegen die Regeln mehrfach verstoßen." Er ließ Sandra und Laura bei ihrem Treiben nicht aus den Augen und schmatzte währenddessen unkontrolliert vor sich hin.

"Du willst böse sein? Lächerlich", grunzte die andere Gestalt. "Klar dürfen wir zuschlagen, das weiß doch jedes Kind. Aber unser großer Manitu möchte noch ein bisschen warten. Es ist nämlich uns überlassen, wann, wo und wie. Er hat vorhin zu mir gesagt, dass das kontraproduktiv wäre, sie jetzt schon aus dem Verkehr zu ziehen. Und jetzt darfst du mal dein totes, vergammeltes Hirn anschmeißen und mir sagen, welcher Hintergedanke sich darin verbirgt."

"Woher soll ich das wissen? So lange bin ich ja noch nicht dabei." Eine unbeabsichtigte Bewegung verriet die Gestalten beinahe. Ein Holzstück hatte laut unter den Sohlen der lechzenden Gestalt geknackt. Laura und Sandra wandten sich hektisch dem Geräusch zu und untersuchten jeden Winkel.

"Hast du das auch gehört?", flüsterte Sandra ängstlich, während Laura den Pinsel weglegte und sich neben ihre Freundin schutzsuchend aufstellte.

"Ja", erwiderte das kleine Mädchen eingeschüchtert.

"Dann habe ich nichts an den Ohren. Hier ist jemand. Aber vielleicht war das auch nur ein wildes Tier. Könnte ja möglich sein", versuchte Sandra ihre Panik zu regulieren.

"Wollen wir lieber abhauen?" Laura war mittlerweile verunsichert und stellte plötzlich alle bereits unternommenen Aktionen in Frage.

Sandra war ratlos und suchte permanent den Garten nach Hinweisen ab. "Komm, wir verstecken uns hinter dem Baum, vielleicht kommt dann das Tier hervor, dass das Geräusch verursacht hat", sagte sie ganz leise hinter vorgehaltener Hand und ging vor.

"Okay", willigte Laura ein und folgte Sandra auf leisen Sohlen in ein Versteck.

Die Mädchen warteten ein paar Minuten, nichts tat sich. "Wir werden beobachtet." Laura drohte unter der nervlichen Belastung allmählich zusammenzubrechen.

"Pst, bleib ruhig. Bestimmt war das nur ein Tier." Sandra glaubte an dieser Theorie nicht wirklich, aber sie hoffte es sehnlichst.

Weitere Minuten zogen ins Land. Sandra und Laura standen noch immer regungslos hinter dem Baum und trauten sich nicht mehr hervor.

Plötzlich kniff Sandra ihre Augen zusammen und beugte sich vor. Sie konnte verschwommen, nur ganz schwach, an der Eisstatue ihres Liebsten etwas Bewegliches sehen. Es kam direkt auf sie zu und nahm immer stärkere Konturen an. "Ha", machte Sandra schließlich erleichtert. "Dahinten ist eine Katze. Puh." Ihr fiel ein gewaltiger Stein vom Herzen.

Laura traute sich aus dem Versteck, erst nachdem Sandra es verlassen hatte. Auch sie konnte mittlerweile die Katze erkennen, die direkt auf die beiden Mädchen zusteuerte. "Meine Güte, ich habe mir fast in die Hose gemacht." Sie lachte laut auf und beugte sich zu der Katze hinunter. "Hey, du bist zahm?" fragte sie den Rumstreuner.

"Nicht", schritt Sandra ein. "Fass sie lieber nicht an."

"Warum denn nicht? Die ist total süß."

"Ich weiß nicht", gestand Sandra irritiert, aber irgendetwas gefiel ihr im ersten Moment an der Situation überhaupt nicht, sie konnte nur noch nicht greifen, was es genau war. "Ich mag Katzen nicht sonderlich."

"Ich schon", erwiderte Laura, hockte sich zu der Katze hinunter und streichelte das schnurrende Bündel. "Siehst du, sie ist ganz lieb." Dann wandte sie sich wieder der Katze zu: "Haben wir dich etwa beim Mäusejagen gestört?"

Sandra wollte Laura nicht beunruhigen, deshalb schluckte sie ihre Frage hinunter, die sie sich selbst auch stelle.

Textlänge: 2.144 Wörter

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